Die Süße des Lebens

Wir alle kennen sie – diese fast magischen Augenblicke und außergewöhnlichen Begegnungen mit Menschen, die uns die Augen öffnen. Momente, die die Macht haben, uns aus unserer Komfortzone zu holen und unser Leben grundlegend zu verändern, wenn wir bereit sind, diesem transformativen Prozess mit Hingabe anstatt mit Widerstand zu begegnen.

Süßigkeiten als beste Freunde

Manchmal ist es das süße Stückchen in der Mittagspause vor einer durchaus wichtigen Präsentation, das unsere Nerven beruhigen soll, damit sich die unbewusste Angst vor einem Blackout in Grenzen hält. Manchmal ist es der schnelle Griff zum Schokoriegel, weil uns die Aussage einer guten Freundin oder des Chefs gekränkt hat. Manchmal ist es die Chipspackung am Abend auf der Couch, die binnen weniger Minuten gesnackt wird, weil wir uns einsam oder alleine fühlen.
Jedes Mal ein stiller Versuch, jene Gefühle wegzudrücken, die für uns Schmerz bedeuten würden. Das Muster dahinter immer gleich – die Mittel jedoch verschieden. Essen, Rauchen, Alkohol, Social-Media, Sex, Shoppen.
Vielleicht kommt dir das so oder so ähnlich bekannt vor? Erkennst dich darin sogar wieder?

Bei mir war es der Triple-Choc-Cookie mit einem XXL-Latte und extra Zucker, die mir Trost spendeten, wenn ich mich einsam und alleine fühlte. Es war die Schoko-Sahne-Torte an einem Sonntagnachmittag, um den Schmerz einer Enttäuschung nicht spüren zu müssen. Es war der Schokoriegel zwischendurch, wenn ich Angst hatte, dem beruflichen Druck nicht mehr standhalten zu können.

Oft sind es Gefühle wie Angst, innere Unruhe, Einsamkeit oder Langeweile, die wir versuchen, mit unkontrolliertem Essen und Naschereien zu unterdrücken und/oder zu kompensieren. Und meist funktioniert es tatsächlich – leider jedoch nur für kurze Zeit. Ein kurzfristiger emotionaler Höhenflug, der nicht selten in einer Wiederholungsschleife endet, weil wir das euphorische Glücksgefühl nach einer Keks- oder Chipspackung für immer spüren möchten. Es sind jene oft unbewussten Gewohnheiten, die in einen Teufelskreis führen können, wenn wir nicht achtsam und bewusst mit unseren Gefühlen, unseren Emotionen und unserem Körper umgehen. Denn:

 

 

Die Macht der Gewohnheit ist der härteste
Klebstoff der Welt!¹
- Dieter Lange -

Für mich wurden die süßen Naschereien am Schreibtisch, die Plunderteilchen in der Mittagspause oder die fettige Pizza am Abend in all den Jahren zu treuen Begleitern und besten Freunden, weil sie immer da waren, wenn ich mich alleine, verlassen, enttäuscht und ausgegrenzt fühlte und wirklich wahre Freunde fehlten.

Geboren, um zu fliegen

Schon als kleines Mädchen merkte ich früh, dass ich auf unbeschreibliche Weise anders war. Quirrlig, aufgeweckt und getrieben von der Neugier dem Leben gegenüber,dachte ich schon in jungen Jahren über den Tellerrand hinaus. Handelte mutig und selbstsicher. Sagte, was ich dachte und lebte, was

 

ich fühlte. Ließ meinen Emotionen freien Lauf und spürte in mir die Sehnsucht meiner Seele nach Freiheit und Unendlichkeit. Denn meine Seele wurde zum Fliegen geboren; sie wollte wie ein bunter Vogel hoch und weit hinaus; wollte die Welt und ihre Diversität begreifen und in ihren schönsten Farben strahlen.

 

Doch dieses „anders sein“ hatte einen hohen Preis.

So wie ich bin, bin ich angeblich nicht gut und richtig.

Kindliche Gedanken, die tief gingen und lange Zeit blieben. Selbstzweifel, Unsicherheit und schwindendes Selbstvertrauen wurden meine steten Begleiter.
Aus Angst, nicht geliebt zu werden, passte ich mich meinem Umfeld und meinen Mitmenschen immer häufiger an. Wurde zum bekannten Fähnchen im Wind.
Widersprach selten und nahm die Meinung der anderen als wahr und richtig hin –zuhause, in der Schule, im Verein, in der Ausbildung, im Beruf.
Doch mit zunehmendem Alter wurde das beengende Gefühl, nicht in diese Welt und schon garnicht in unsere Gesellschaft zu passen, immer stärker. Denn ich spürte immer deutlicher, dass die von mir ohne Widerspruch hingenommenen Meinungen der anderen ihre Wahrheiten, aber nicht meine waren. Ich fühlte mich unverstanden und an den Rand der Gesellschaft gedrängt, weil ich einen völlig anderen Blick auf diese Welt hatte.
Mit der Zeit fühlte es sich an, als hätten mich die gesellschaftlichen Normen,
Vorgaben, Verbote und Pflichten während all der Erziehungs- und Schuljahre in Ketten gelegt, sodass die Flügel meines neugierigen Seelenvogels nach und nach immer weniger schlugen und die strahlenden Farben immer mehr verblassten.
Aus kunterbunt wurde mausgrau und aus dem einst kleinen, quirrligen, selbstsicheren und mutigen Blondschopf ein verunsichertes Mädchen, das sich im Laufe der Jahre immer mehr verlor.

Sehnsucht sucht

Vordergründig sehnte ich mich schlichtweg nach Zugehörigkeit, Anerkennung, Liebe, Geborgenheit und Sicherheit. Doch trotz der liebevollen Nestwärme meiner Mutter und der herzlichen Zeit mit meiner Oma, blieb stets ein Gefühl der Sehnsucht und des Verlorenseins in mir zurück. Wonach sich meine Seele jedoch wirklich sehnte und warum ich mir auf dieser Welt oft so verloren vorkam, konnte ich mir in meinen jungen Jahren nicht erklären.
Deshalb versuchte ich immer häufiger, dieses emotionale Devizit durch kurze Genussmomente mit Süßigkeiten und Kuchen zu kompensieren und mir auf diesem Wege die Süße des Lebens zurückzuholen. Doch sie hielt nicht lange an. Ganz im Gegenteil – schnell war die Leere in meinem Herzen präsenter als zuvor. Zurück blieb jedes Mal ein immer dicker werdendes Mädchen, das nun nicht nur aufgrund seiner Wesensart, sondern auch rein optisch – durch das Übergewicht – völlig aus der Norm fiel.

Ein – im wahrsten Sinne des Wortes – schweres Unterfangen in einer Gesellschaft, die stark auf das Optische fixiert und konditioniert ist. Eine Gesellschaft, die sich lieber an äußerlicher Schönheit orientiert als innere Werte zu schätzen. Eine Gesellschaft, die mit den Augen be- und verurteilt anstatt mit dem Herzen zu sehen. Doch leider war es diese Grundhaltung, die mir von eben jener Gesellschaft tagein tagaus entgegenschlug. Dies war in der Kindheit so und in meinem späteren Leben nicht anders.

Von der Klassengemeinschaft ausgegrenzt, im Sport als Letzte in die Gruppe gewählt oder von seinen Mitmenschen ständig komisch beäugt zu werden, verändert einen Menschen – Mobbing prägt ihn, für immer. Schmerzlich musste ich erfahren, dass ich durch das Übergewicht nun noch weniger zu all jenen gehörte, zu denen ich eigentlich gerne gehören wollte.

Deshalb begann ich schlussendlich meinen eigenen – oft sehr einsamen – Weg zu gehen. Ich verschanzte mich hinter meinen Schulbüchern und der Ausrede „Ich muss lernen“, um den Konfrontationen und Blicken meiner Mitmenschen aus dem Weg zu gehen. Es war (m)eine Flucht vor dem wahren Leben.
So kam es, dass ich mit den Jahren nicht nur in Süßigkeiten, sondern auch in Notenbekanntgaben jene Bestätigung fand, die ich im Außen immer suchte. Stets darauf fixiert, besser zu sein als der Durchschnitt, trieb ich mich zu immer mehr Leistung an. Denn ich wollte nicht nur gut, sondern perfekt sein – zumindest auf dem Papier. Ein leises Lob von Eltern und Lehrern, ein neidischer Blick der Klassenkameraden und weiter ging die Jagd nach guten Noten und Anerkennung.

Überwältigt vom emotionalen Stress und der Angst, nicht gut und schön genug zu sein, baute ich mir durch weitere Kilos eine Schutzmauer auf, um emotionale Verletzungen, Kränkungen, Demütigungen und Zurückweisungen besser ertragen zu können. Damit bestieg ich jedoch jenen Teufelkreis, der den Betroffenen rückblickend zwar meist sehr offensichtlich erscheint, aber im Moment des Schmerzes und des Leides nicht wahr genommen wird bzw. wahr genommen werden kann.

Als ich dich fand

Es war ein fatales (Versteck)Spiel, das ich auch während meiner Ausbildung und besonders im späteren Berufsalltag weiterspielte, weil ich von meinem Ego getrieben, gehetzt, gejagt wurde. Immer noch war ich auf der Suche nach Zugehörigkeit, Anerkennung, Liebe, Geborgenheit und Erfolgen, die die Leere in meinem Herzen füllen und meine Sehnsucht stillen würden.

Denn nicht selten leben wir in dem Glauben, der Hoffnung, der Illusion, dass das nächste erfolgreich abgeschlossene Projekt, der bevorstehende Arbeitsplatzwechsel oder der neue Wohnort endlich die lang ersehnte Erfüllung, das unendliche Glück und damit tiefe innere Zufriedenheit bringen würden. So war es auch lange Zeit bei mir und in meinem Leben.
Doch nach der ersten anfänglichen Freude und dem euphorischen Glücksgefühl über den eingefahrenen Erfolg, stellen wir dann – entsetzt und in unseren Erwartungen zurückgeworfen – schnell fest, dass diese Gefühle nicht lange anhalten. Allzu schnell kommen wir von unserem Höhenflug auf den Boden der Tatsachen zurück und fragen uns: „Und was jetzt?“ Was bringt mir nun wirklich die ersehnte innere Zufriedenheit, wenn es dieser Projektabschluss, dieser Arbeitgeberwechsel oder dieser Umzug nicht war?
Gefangen im Hamsterrad der Illusionen geht die Suche nach dem dauerhaften Glück, wirklicher Erfüllung und innerem Frieden weiter. Vielleicht ist sie in der nächsten Beziehung oder einem schicken Auto zu finden?

In meinen Erwartungen gegenüber meinen beruflichen Erfolgen zurückgeworfen, versuchte ich wieder einmal, diese Enttäuschungen und die Leere in meinem Herzen mit noch mehr Leistung und Süßigkeiten zu füllen. Und wieder einmal blieb ich als die Person zurück, die ich irgendwie schon mein ganzes Leben lang zu sein schien.

Ein dickes Häufchen Elend, das unzufrieden, unglücklich und verzweifelt war. Denn mein Dasein hatte weniger mit Leben, als viel mehr mit Überleben zu tun.

Die unbefriedigenden Berufsjahre vergingen und mit ihnen Lebensjahre, die ungelebt verstrichen. Immer deutlicher spürte ich wie
der Sand meiner Lebensuhr dahinrieselte, während ich mich immer mehr verlor – in Vorstellungen der Gesellschaft, in Vorgaben meiner Vorgesetzten und vor allem in meiner eigens eingerichteten Komfortzone.

Ich steckte fest in einem Leben, das garnicht meins zu sein schien.

Aber oft sind es genau diese Momente tiefer innerer Unzufriedenheit, die uns ins Handeln bringen, weil wir insgeheim doch längst spüren, dass es an der Zeit ist, etwas Grundlegendes in unserem Leben zu verändern und die alten, ausgetretenen Pfade zu verlassen. Eine Lebensphase, die zum Umdenken zwingt, und die Frage nach festhalten oder loslassen in uns immer lauter werden lässt. Doch obwohl wir wissen, dass loslassen die beste Entscheidung wäre, haben wir oft nicht den Mut, neue Wege zu beschreiten. Denn für viele gilt: „besser bekanntes Unglück als unbekanntes Glück.“ ² . Deshalb bleiben wir zu oft verkrämt und unzufrieden im gemütlichen Elend stecken.

Auch mir fehlte schlichtweg der Mut, den ersten Schritt in Richtung Freiheit zu gehen, die Ketten um meine Flügel zu sprengen und als bunter Vogel endlich wieder abzuheben. Wusste ich doch nach all den Jahren nicht mehr, wie es sich einst anfühlte, zu fliegen. Und doch spürte ich in mir immer deutlicher, dass es Zeit war, etwas in meinem Leben zu verändern. War ich es mir und meinem Leben doch schuldig, die bestmöglichste Version meiner selbst zu werden.

In solchen Phasen der innerlichen Transformation sind es jene anfangs angesprochenen Ereignisse und Begegnungen mit Menschen, die die Magie in sich tragen, uns eine ganz neue Sicht auf unsere Persönlichkeit und unser Leben zu geben, und damit ganz neue Horizonte zu eröffnen – wenn wir denn bereit sind, ihnen mit Mut und einem offenen Herzen anstatt mit Widerstand zu begegnen.

Bei mir brachte die Ausbilung zum Coach und die Begegnung mit einer lieben Seele den entscheidenden Wandel. Erst durch die knallharten Worte eines neuen Partners und die tiefe emotionale Arbeit an mir selbst verstand ich, dass ich in den Süßigkeiten und in der Anerkennung etwas suchte, das mir jedoch niemand zurückgeben konnte. Denn ich musste schmerzlich erfahren, dass ich als alleingeborener Zwilling auf diese Welt kam. Schon als kleines Wesen musste ich eine Seele gehen lassen, die meine bessere Hälfte war und mir alles bedeutete.

Es war dieser tiefe und traumatische Verlust, der in meinem Herzen seit meiner Geburt jenen Schmerz und jene Leere hinterließ, die ich all die Jahre versuchte, durch Süßigkeiten, Leistung, Anerkennung und Ansehen zu kompensieren.
Doch erst durch das Erkennen dieses Traumas bekam ich ein tieferes Verständnis für meinen Kummerspeck und begriff, dass mein Frustessen eine Suche nach der einstigen Nähe, Wärme und Vertrautheit meines Zwillings war. Dies erklärte letztendlich auch, warum ich mich stets anders, alleine, einsam, verloren, fremd und ausgegrenzt fühlte.

Durch die Begegnung mit einem lieben Menschen bekam ich die Möglichkeit, mich von meinem Zwilling zu verabschieden. Dadurch konnte ich diesen Verlust, den seelischen Schmerz und alle damit verbundenen Gefühle bewusst wahr- und annehmen, anstatt sie weiterhin durch Naschereien zu betäuben. So erlebte ich, wie ich mit jedem erlösten seelischen Ballast auch körperlichen Ballast los wurde. Mein Übergewicht wurde nach und nach weniger, weil ich keine Schutzmauer mehr brauchte. Denn mit der Zeit und etwas Geduld konnte ich in mir und meinem Herzen das finden, wonach ich mich immer sehnte. Ruhe und Geborgenheit.

Ich suchte nach Sicherheit und
wusste nicht wo ich sie fand.
An einem Ort? Bei einem Mensch?
In einem Gegenstand?
Vielleicht in dir? Vielleicht im Hier?
Vielleicht im Dort?
Bis ich irgendwann verstand,
wo ich sie fand!
IN MIR!

- Bettina Magg -

¹  Dieter Lange. Sieger erkennt man am Start – Verlierer auch. Berlin: Econ. 12. Auflage 2020. S. 105f.
²  Dieter Lange. Sieger erkennt man am Start – Verlierer auch. Berlin: Econ. 12. Auflage 2020. S. 106.