Mein Leben – ein Maskenball

Am Anfang unseres Lebens sind wir alle gleich. Unschuldig, vorurteilsfrei und mittellos kommen wir auf diese Welt. Erst mit den Jahren der Erziehung und Sozialisation werden wir zu dem Menschen, der wir heute sind.
Doch wer bist du in der Tiefe deines Wesenskerns?
Wer bist du eigentlich?

Vom Unikat zum Abziehbild.

Wir alle kommen mit ganz speziellen Talenten, Potentialen, Eigenschaften und Merkmalen – mit einer ganz individuellen Wesensart – auf diese Welt. Es ist unsere unausweichliche Geworfenheit, die uns einzigartig macht.

Doch während wir als Kinder diese Geworfenheit ohne nachzudenken einfach lebten, scheint es Jahrzehnte später, als hätten wir unsere Einzigartigkeit durch unsere Erziehung und die Sozialisation verloren. Als Unikat geboren, werden wir im Laufe des Lebens nicht selten zu Abziehbildern. Ein Abklatsch unserer Eltern, Geschwister, Klassenkameraden, Freunde, Bekannte oder Nachbarn. Aber wieso? Weil viele von uns früh erlebten, welche Konsequenzen folgen konnten, hatten wir uns einmal mutig und selbsttreu gegen den Rest der Gemeinschaft aufgelehnt. Schnell waren Zurechtweisungen, Tadel, Hausarrest oder Liebesentzug die bevorzugten Mittel, um uns wieder einzunorden; um uns wieder auf den „richtigen“ Weg zu bringen. Richtig war dieser Weg jedoch meist nur für diejenigen, die selbst nicht den Mut hatten, zu ihrer Einzigartigkeit zu stehen und deshalb stets bemüht waren, auch andere davon abzubringen. Aus Angst vor weiteren Konsequenzen oder gar dem Ausschluss aus der Gemeinschaft, passten wir uns deshalb lieber unseren Mitmenschen und unserem Umfeld an. Wurden unbewusst von Nein- zu Ja-Sagern, weil es uns nach und nach schlichtweg abtrainiert wurde, zu unserer Individualität zu stehen.

Zurück bleiben dabei nicht selten in ihrer Eigenart beschnittene Charaktere, die schnell eine Meinung vertreten, die garnicht ihre zu sein scheint, nur um im Außen Gefallen zu finden. Charaktere, die in Lebenssituationen verharren, obwohl sie unzufrieden und unglücklich sind, nur um nicht aus der Reihe zu tanzen. Charaktere, die an Beziehungen (partnerschaftlich wie freundschaftlich) oder sogar an einer Ehe festhalten, nur um niemanden zu verletzen oder den Schein nach außen zu wahren. Die Liste ist schier endlos, das Muster dahinter meist dasselbe. Wir alle möchten dazugehören, geliebt,
anerkannt und gesehen werden. Dafür verbiegen wir uns und stellen unsere eigenen Interessen, Wünsche und Bedürfnisse oft so lange hinten an, bis wir selbst kaum noch wissen, was wir eigentlich wirklich wollen und wer wir eigentlich sind.

Aus kunterbunt wurde mausgrau.

Mit den Lebensmotiven und Werten der Freiheit, der Freude, der Offenheit und des Mutes kam ich auf diese Welt. War gleichermaßen wissbegierig und neugierig, und mit einem gewissen Respekt dem Leben gegenüber auch vorsichtig.
Mit einer großen Portion Fröhlich- und Herzlichkeit ging ich dem Leben im Vertrauen entgegen. Denn meine Seele wurde zum Fliegen geboren – wollte als bunter Vogel hoch und weit hinaus, um Freiheit zu spüren und Unendlichkeit zu fühlen; wollte die Welt und sich selbst erfassen und begreifen; wollte Dinge ausprobieren und wieder sein lassen, wenn es nicht ihrer vollsten und höchsten Bestimmung diente. Denn sie ist nicht hierher gekommen, um sich auf eine Sache festzulegen, sondern in der Vielfältigkeit ihre tollsten Farben strahlen zu lassen. Nicht aufdringlich leuchtend, aber bunt genug, um gesehen zu werden.
Das war auch der Grund, warum ich schon sehr früh als kleines Mädchen das tiefe Gefühl in mir verspürte, dass mich meine andersartige Wesensart von den vorgegebenen Pfaden unserer Gesellschaft und den Mustern, die sie vertrat, abdrängte.

Während ich also in jungen Jahren noch mit dem klaren Seelenplan, für Ehrlichkeit, Wahrheit, Klarheit und Menschlichkeit einzustehen, in meine kleine Welt hinauszog, zwangen auch mich die Ängste vor möglichen Konsequenzen und die dominanten Stimmen des Außens im Laufe der Jahre immer mehr auf den gesellschaftlichen Kurs. Sodass ich letztendlich ebenfalls Meinungen vertrat, die garnicht meine waren; in unerfüllenden Lebenssituationen verharrte, um nicht als sprunghaft zu gelten; und einem Job nachging, der mich unglücklich machte, nur um den Schein nach außen zu wahren. Ich führte, um heute bei der Ehrlichkeit zu bleiben, ein „Mehr-Schein-als-Sein-Leben“, das überall Gefallen fand, nur bei mir nicht.

So kam es, dass mein einst großer Seelenplan im Laufe der Erziehungs-, Schul-, Lehr- und Berufsjahre immer kleiner und unscheinbarer wurde, bis er letztendlich nicht mehr existierte.
Zurück blieben schließlich Flügel, die aufgehört hatten, zu schlagen, weil sie in Ketten gelegt wurden; Spinnereien, Ideen und Visionen, die nie ihr volles Potential erreichten, weil ich aufgehört hatte, zu träumen; Vorlieben, die im Keim erstickt wurden, weil sie den gesellschaftlichen Normen nicht entsprachen; Hobbys, die auf Eis gelegt wurden, weil mit der Arbeitswelt der Ernst des Lebens begann; individuelle Eigenschaften, die ich unterdrückte, weil sie von anderen als störend wahrgenommen wurden; eine versteinerte Miene, weil meine Fröhlichkeit und mein herzliches Lachen für manche Mitmenschen zu laut war; und schließlich verstummte auch noch durch die dominanten Blicke und Stimmen der Außenwelt der letzte Drang nach Ehrlichkeit, weil es nicht gerne gehört wurde, wenn ich meine Wahrheit sprach.

Schlussendlich war mein Seelenvogel weder schwarz noch weiß und schon garnicht kunterbunt.
Er war mausgrau.

Ein Theaterspiel in unzähligen Akten.

Während wir als Kinder noch groß träumen, handeln wir hingegen als Erwachsene oft klein.
Aus den einst großen, mitreissenden Lebensvisionen und -plänen werden nicht selten Träumereien, die in unseren Herzen verkümmern, weil wir uns von den gesellschaftlichen Normen, Vorgaben, Verboten und Verpflichtungen einschränken lassen und uns an sie anpassen.

So wurde aus meinem einst großen Seelenplan, für Ehrlichkeit, Wahrheit, Klarheit und Menschlichkeit

einzustehen, ein Weg der Anpassung, der Unterwürfigkeit, der Unehrlichkeit, des Sich-kleinmachens und des Gefallen-wollens; und aus dem einst strahlenden, (welt)offenen und farbenfrohen Mädchen eine misstrauische, unsichere und unscheinbare Jugendliche und junge Frau, die es perfektionierte, sich ihrem Umfeld, ihren Mitmenschen und vor allem deren Gefühlen, Schwingungen, Gemütszuständen, Meinungen und Launen anzupassen.
Wie eine Schauspielerin trug ich zu jeder Szenerie meine perfekt einstudierte Maskerade – passend zum jeweiligen Um- und Zustand. Höchst sensibel legte ich mir zurecht, wann ich wo, wie zu sein hatte. Denn die Angst, aufgrund meiner angeblich eigenartigen Individualität, polarisierenden Meinung und differenzierten Sicht auf die Welt, ausgegrenzt zu werden, saß tief.

So wurde mein Leben im Laufe jeder Jahre immer mehr zu einer Art Maskenball, bei dem ich fast minütlich die Maske wechselte. Wie ein Theaterspiel in unzähligen Akten.

Darf ich bitten?

Genauso wie ich früh merkte, dass mich meine Eigenart von den konventionellen Pfaden der Gesellschaft abdrängt, erkannte ich recht schnell, dass die Meinungen der anderen nur ihre Wahrheiten, aber nicht meine waren. Dennoch fand Widerspruch nur hinter meiner Fassade, tief in meinem Herzen statt, weil mich auch hier die Angst vor den Konsequenzen klein hielt. Anstatt für meine Wahrheiten einzustehen, zog ich mich immer häufiger zurück und unterwarf mich jenen dominanten und autoritären Instanzen, die vorgaben und glaubten, zu wissen, wie man laut Gesellschaft zu sein hat, um gemocht, anerkannt und gesehen zu werden. So kam es, dass ihre festgefahrenen Meinungen, Überzeugungen, lapidar dahin gesagten Bemerkungen und ihre Intoleranz gegenüber anderen Lebens- und Umgangsformen unausweichlich zu meinen Glaubenssätzen wurden. Glaubenssätze, auf denen ich zusammen mit den Verboten, Geboten, Zurechtweisungen und Erlaubnissen der Kindheit und Jugend mein eigenes – sehr verzerrtes – Gesellschafts- und Weltbild aufbaute.

Ein fatales „Spiel“, aus dem mit den Jahren purer Ernst wurde, sodass ich immer weniger wahrnahm, was ich eigentlich dachte, wie ich wahrhaftig fühlte und wer ich wirklich war. Ein „Spiel“, in dem ich mich immer mehr verlor und letztendlich nicht einmal mehr wusste, ob ich dieses wahre Selbst – ohne all die auferlegtenNormen, Vorgaben, Pflichten und Überzeugungen – überhaupt sein durfte. Natürlich nicht wissend, wer ich als wahres Selbst eigentlich wäre.

Doch wen um Erlaubnis fragen? Etwa die Menschen, die mich unwissend und unbewusst (natürlich ohne böse Absicht – um hier die Schuldfrage vorwegzunehmen) zu dem gemacht haben, wer ich war?
Bei wem hätte ich jedoch anfangen und wo aufhören sollen?

Deshalb blieb ich aus Angst vor Konfrontationen mit meinem Umfeld oder weiteren Zurückweisungen meiner Mitmenschen – hätte ich mein wahres Gesicht gezeigt – lieber dort, wo ich vermeintlich sicher war. In meinem seit Jahren gemütlich eingerichteten Elend – genannt Komfortzone.

Endlich Farbe bekennen.

Wenngleich ich mit jedem Lebensjahr immer deutlicher spürte, wie die Ketten um meine Flügel enger und der Leidensdruck größer wurde(n), fehlte mir schlichtweg der Mut, für mich, meine Bedürfnisse und Ansichten einzustehen und Schöpferin meiner ganz eigenen Realität zu werden. Denn die Vorgaben der Mächtigen hatten mich im Laufe der Jahre gebrochen.
Deshalb besaß ich nicht die innere Stärke und Kraft, die Ketten zu sprengen, um meine ganz persönlichen Wahrheiten und Herzenswünsche in die Welt zu tragen. Zu sehr war ich damit beschäftigt, meine Masken aufrecht zu erhalten, meine Umgebung zu scannen und mich auf die Stimmungen meiner Mitmenschen einzustellen. Schließlich wollte ich das Bild des braven Mädchens, das alle in mir sahen, aufrecht erhalten.

Den Preis, den ich dafür jedoch bezahlte, war ein hoher.

Denn als der Leidensdruck mit den Jahren immer größer wurde, wurde ich immer anfälliger für Krankheiten. Jede Krankheit ein Zeichen meiner Seele, die mich aufforderte, endlich wieder Farbe zu bekennen und zu meiner Geworfenheit, meiner Einzigartigkeit und meinem Strahlen zurück zu finden.

Es war also an der Zeit, mich offen, ehrlich und ohne Schönrederei zu fragen, ob es wirklich meine Meinungen waren, die ich all die Jahre preisgab oder ob es doch die Versionen waren, die mein Gegenüber hören wollte? Waren es meine wahren Gefühle, die ich in all den vergangenen Augenblicken zeigte oder waren es doch eher jene Emotionen, die in der jeweiligen Situation angebracht waren? War ich wirklich diese ruhige und brave Persönlichkeit, die alle in mir sahen, oder schlummerte in mir doch eine Rebellin, die lieber gegen als mit dem Strom schwamm?

Oft sind es jene einschneidenden Ereignisse wie Unfälle, Schicksalsschläge, Krankheiten, Trennungen oder Kündigungen, die uns wachrütteln und auffordern wollen, innezuhalten, einen ungeschönten Blick auf unser
bisheriges Leben zu werfen und ehrlich zu reflektieren, ob wir so wie bisher weitermachen möchten.

Erst mein enormer Leidensdruck über Jahre führte mich zu einem Bewusstwerdungsprozess, durch den ich verstand, dass nur ich selbst mir die Erlaubnis erteilen konnte, Schöpferin meiner ganz eigenen Realität und damit meines Lebens zu werden. Ein Prozess, der mir die Chance bot, mein wahres Selbst zu entdecken und kennen zu lernen. Denn nun war ich bereit, den Maskenball meines Lebens zu verlassen und die über
Jahre aufrechterhaltenen Masken und Identifikationen aufzugeben, zu meiner Meinung zu stehen und endlich meine Wahrheiten zu sprechen, um die Ketten um meine Flügel sprengen und bei mir selbst ankommen zu können.

Es war nun an der Zeit, selbst Antworten auf mein Leben zu finden und in die Selbstver•antwort•ung zu gehen, anstatt sich vom und durch das Außen leben zu lassen.
Ein Schritt, der jedoch jeden Tag aufs Neue Mut und Vertrauen erfordert. Denn sobald wir den Schritt raus aus der Opferrolle hin zum Schöpfertum wagen, sind wir für all unsere Handlungen und die daraus resultierenden Konsequenzen selbst verantwortlich und können die Schuld nicht mehr durch Projezieren im Außen bei anderen suchen.

Einzigartigkeit, die bleibt.

Nun galt es also für mich, die Angst vor meiner Einzigartigkeit willkommen zu heißen und durch sie hindurchzugehen, um wieder auf den Weg zurück zu finden, von dem ich als kleines Mädchen abgekommen war. Es ist der Weg der Selbsttreue, der jeden Tag aufs neue Ausdauer, Beharrlichkeit, Geduld und Willenskraft erfordert, um die Flügel wieder auszubreiten; Spinnereien, Ideen und Visionen wieder weiter zu träumen; Vorlieben wieder auszuleben; Hobbys wieder in den Alltag zu integrieren; individuelle Eigenschaften wieder ihren Selbstausdruck finden zu lassen; mit meiner Fröhlichkeit andere Leute wieder zum Strahlen zu bringen und für den Drang nach Wahrheit und Ehrlichkeit wieder einzustehen.

Ein Weg, der mit unsere Einzigartigkeit belohnt wird und zu Freiheit und Unabhängigkeit führen kann. Ein Weg, der, einmal betreten, wohl niemals enden wird und der zu einem ganz persönlichen Weg werden kann, wenn wir den Mut haben, die vorgegebene Pfade zu verlassen, um auf den weniger Betretenen uns selbst zu finden.

(…)
Two roads diverged in a wood, and I –
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.³
- Robert Frost -

Deshalb gehe ich meinen Weg voller Vertrauen, Offenheit und Mut weiter. Denn er lohnt sich, begangen zu werden, um – im Wesenskern angekommen – wieder in kunterbunten Paradiesfarben zu erstrahlen. Denn eines wurde mir in diesem Prozess mehr als bewusst: wir können unserer Geworfenheit und Einzigartigkeit nicht entfliehen, weil wir früher oder später sowieso dort ankommen, wo wir immer schon waren: BEI UNS SELBST.

Und so frage ich dich:

Bist auch du mutig genug, dich der Angst vor deiner Einzigartigkeit zu stellen, damit du eines Tages voller Stolz sagen kannst „Es hat sich gelohnt, das Mausgraue-Dasein aufzugeben, um meine schönsten Farben wieder leuchten und meine Einzigartigkeit wieder aufleben zu lassen .“ ?

Literaturnachweis:
³ Robert Frost. Promises to keep. Poems Gedichte. München: C. H. Beck textura. 9. Auflage 2016